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Boris Rebetez - “Anticipation”, Kunstmuseum Solothurn, 2010

Michael van den Abeele

Anrufung der Mimoiden



Anrufung des Mimoiden Der Göttliche Primat Einmal angenommen, ein fremdes Wesen „berührt“ uns. Ein Wesen, das man als eine außerirdische Entität umschreiben kann. In der Sciencefiction-Literatur wird diese Berührung inoffiziell als „first contact“, als erster Kontakt bezeichnet, aber Kontakt ist noch keine Kommunikation, also lassen wir es bei Berührung. Dieser fremde Besucher kommt von weit her und ist nicht anthropomorph, wohl aber räumlich. In seinem Wesen gibt es vor allem Orientierung, Navigation und Raum. Das ist auch relativ logisch, wenn er unseren Planeten hat finden und erreichen können. Der Besucher verfügt auch über etwas, was wir als Intelligenz bezeichnen würden. Am Anfang hat diese fremde und hochkonzentrierte Entität keinen eigenen Körper (zumindest kein wahrnehmbares Volumen), obwohl sie in der Lage ist, je nach den Umständen jede beliebige Form anzunehmen. Sie dringt in unser Gehirn ein, sucht dort (nehmen wir an) nach etwas, in dem sie sich am meisten erkennt, und landet beim Hippocampus. Der Hippocampus ist der Teil unseres Gehirns, der vornehmlich dazu dient, Erinnerungen zu speichern und wieder zu aktivieren. Zugleich hat der Hippocampus eine Nebenfunktion, die für unser räumliches Vorstellungs- und Orientierungsvermögen von ausschlaggebender Bedeutung ist. Wissenschaftler gehen davon aus, dass der Hippocampus als kognitive Karte funktioniert; eine Art neurologischer Repräsentation unserer Umgebung. In gewissem Sinne ist der Hippocampus unser Raumgedächtnis. Man kann davon ausgehen, daß der fremde Besucher diese beiden separaten Funktionen als eine einzige interpretiert, oder zumindest als eine Zweieinigkeit: Gedächtnis/Raum. Anhand der Treppen, die wir einst hinabgestiegen sind, der Stadtpläne, die wir studiert haben und der Wälder, durch die wir gewandert sind, spürt der Besucher unserer Geschichte nach. Für diesen Besucher ist Ort das Äquivalent für Subjekt. Anschließend zeigt er sich uns in Form räumlicher Eruptionen, die scheinbar aus dem Nichts hervorgehen; Reproduktionen der verschiedensten Orte, Landschaften und Räume, denen er in den hintersten Winkeln unseres Gedächtnisses begegnet ist. Für ein Wesen, das im Grunde selbst Raum ist, liegt das am nächsten. Von der Annahme ausgehend, dass Raum eine intelligente Entität ist, reagiert der Besucher daher mit Nachahmung auf seine Umgebung (unseren Raum), als wäre er eine Art Primat von Göttlichem Ausmaß mit den mimetischen Fähigkeiten eines Chamäleons. Die Püreevision Aus den genannten Gründen können wir den Besucher der Einfachheit halber Mimoide nennen, nach einer Bezeichnung aus Stanislaw Lems Novelle Solaris (1961), die vor allem durch Andrej Tarkowskis Verfilmung bekannt wurde. Lems Hauptmotiv, das in gewisser Weise den Ausgangspunkt dieses Textes bildet, war gerade das Unvermögen und die Bedeutungslosigkeit eines jeden menschlichen Versuchs, mit dem wirklich Fremden in Kontakt zu treten. Lem war der Meinung, daß jeder Versuch, die Motivation außerirdischer Manifestationen zu begreifen, von unserem eigenen Anthropomorphismus blockiert werde. Mit dieser Sichtweise widerspricht der Autor genau jener humanistischen Selbstüberschätzung, die sich in den meisten first contact-Szenarien äußert. Eines der bekanntesten filmischen Beispiele für die Begegnung und Kommunikation zwischen außerirdischen Besuchern und Menschen ist Steven Spielbergs Close Encounters of the Third Kind (1977) (deutscher Titel: Unheimliche Begegnung der dritten Art). In Close Encounters findet die Kommunikation durch eine Folge von fünf Tönen statt. Die sprichwörtliche „universale“ Harmonie der Musik wird hier buchstäblich von jeder Entität im Kosmos verstanden. Das Wesen des wirklich Fremden, und die Begegnung mit ihm, wird in der ersten Hälfte des Films allerdings viel grundsätzlicher angesprochen: Hier ist die Hauptfigur Roy Neary (Richard Dreyfus) zwanghaft von einer unerklärlichen Vision eines Berges besessen. Eine Vision, die ihm von einer außerirdischen Intelligenz ins Gehirn implantiert wurde und die sein ganzes (Familien-)Leben aus den Fugen hebt und ihn selbst an den Rand des Wahnsinns treibt. Dieser Berg, den Roy Neary beim Abendessen zunächst mit Kartoffelpüree, später mit Lehm und allen möglichen herumliegenden Gegenständen und Baumaterial aufschichtet, füllt schließlich das ganze Wohnzimmer; aber einen Aufschluß über seine Vision bekommt er nicht. Das Ding steht da, gibt keine Antwort, und Neary bleibt frustriert zurück. Die Vision/Der Berg erweist sich schließlich als der Platz, den die außerirdischen Wesen als Ort der Begegnung für ihren ersten Besuch bei den Menschen erkoren. Hätte der Film mit einem ratlosen Neary am Fuß seines Berges geendet, d. h. ohne Aliens, dann wäre Close Encounters möglicherweise das Manifest einer romantischen Natursublimation gewesen, eine hysterische Suche nach dem fremden Kern, der in der Landschaft verborgen liegt. Nach dem, was das Püree größer macht als es ist. Eine Romance in mehreren Dimensionen Manifestationen des Mimoiden erscheinen als hybride, räumliche Interventionen von Naturfragmenten oder als architektonische Mikroklimata. Genauso scharf wie ein vom Meeresspiegel abgeschnittener Inselarchipel, und genauso unabhängig, spalten sich die Räume des Mimoiden in unserer Umgebung auf. Raum, wie er von der Retina erfaßt wird, fällt nicht unbedingt mit dem Raum zusammen, wie er durch die Orientierung auf der kognitiven Landkarte des Hippocampus registriert wird. Folglich sind viele der Reproduktionen von Mimoiden durch räumliche Anomalien gekennzeichnet. Einmal abgesehen von einem falschen Größenverhältnis sind die architektonischen Simulakren nur selten nutzerfreundlich, zudem haben die rekonstruierten Ornamente auch keinen dekorativen Wert. Es sind ins Blaue hinein zitierte Stilfiguren, undifferenziert in ihrer Auswahl und scheinbar ebenso willkürlich unserer Umgebung aufgepropft. Die Erinnerung, die der Mimoide unserem Gehirn entzogen hat, ist nicht die Erinnerung eines Architekten, sondern im Gegenteil die eines Besuchers, eines Nutzers von Architektur. Das Wahrnehmen solcher Raumscherben, die sich bei passender und unpassender Gelegenheit in unsere Umgebung einfügen, kann ziemlich schnell als fragmentierter Realitätssinn unterstellt werden oder noch schlimmer: als paranoide Wahnvorstellungen. Damit dies nicht geschieht, und um uns ein begreifbares Bild davon machen zu können, wie sich diese Erscheinungen in unsere Realität einblenden, können wir Edwin A. Abotts Novelle Flatland, a Romance of many Dimensions (deutsch: „Flächenland - ein mehrdimensionaler Roman, verfaßt von einem alten Quadrat" ) von 1884 zu Rate ziehen. Flatland erzählt die Abenteuer von A. Square (buchstäblich ein Quadrat), einem Bewohner von Flächenland, einer zweidimensionalen Welt. Diese Welt wird eines Tages von einer Kugel besucht, die aus einer dreidimensionalen Welt stammt. Mit seiner zweidimensional gebundenen Perzeption ist das Quadrat jedoch nicht in der Lage, die Kugel als ein dreidimensionales Volumen wahrzunehmen. A. Square sieht die Erscheinung der Kugel in seinem Wohnzimmer zunächst als Punkt, dann als immer größer werdenden Kreis, der – nachdem er seinen absoluten Durchmesser erreicht hat – wieder kleiner wird und schließlich wieder in einem Punkt endet (siehe Illustration). Im Laufe der gesamten Erzählung versucht die Kugel dem Quadrat zu begreiflich zu machen, was die dritte Dimension ist, ohne daß das Quadrat wirklich in der Lage wäre, sie wahrzunehmen. Als dies der Kugel schließlich gelingt, argumentiert das Quadrat seinerseits, möglicherweise könne ja auch eine vierte Dimension existieren, aus der eine Figur in vergleichbarer Weise in der dritten Dimension auftauchen könnte. Dies wird jedoch von der Kugel als aberwitzige Idee zurückgewiesen. Im Hinblick auf die Perzeption ist dabei folgendes bemerkenswert: Durch die Beschränkungen seiner Dimension kann A. Square immer nur ein Segment von Kugel wahrnehmen, sie nie als Volumen sehen. Die Kugel bleibt etwas, das sich in seinen Raum hineinschiebt, aber offenbar umfangreicher ist als dieser Raum. Die Kugel sieht dagegen von Quadrat nicht nur die Außen-, sondern zugleich auch dessen Innenseiten. In vergleichbarer Weise könnte eine vierdimensionale Figur nicht nur in der Lage sein, die Außenseiten (an jeder Seite entlang!) eines dreidimensionalen Volumens zu sehen, sondern auch deren Innenseiten. Was wir im Fall der Manifestationen des Mimoiden wahrnehmen können, ist ein Zusammenfallen der beiden Standpunkte: Die Manifestationen sind partiell (so wie das Quadrat die Kugel sieht) und zugleich auch para-dimensional (so wie die Kugel das Quadrat sieht). Überdies erfassen wir auch, wie dieser Raum von unserem Gedächtnis erinnert wird. Von einer idyllischen, aber transluzenten Landschaft erkennt man auch deren innere Konstruktion. Und wenn man genau genug hinsieht, wird auch das ideologische Konzept sichtbar. Wie ein Ektoplasma hängt häusliche Behaglichkeit in Gestalt eines braunen, transparenten Abgusses des Wohnzimmers an dem marmornen Kaminsims. Im Gedächtnis einer Zimmerwand vibrieren die Resonanzen früherer Streitereien zwischen den Nachbarn noch immer nach – Backstein ist ein träger Leiter. Von einem zertrümmerten Denkmal einer längst vergangenen Revolution hat das Gedächtnis den Sockel bewahrt. Die verhandelbare Umgebung Gelegentlich wird der Mimoide als Psychonaut betrachtet und seine räumlichen Manifestationen als Impressionen einer Raumfahrt durch die limbischen Regionen unseres Geistes: eine Art topologischer Psychoanalyse. Die „Lesung“ der Landschaften läßt sich mit dem Interpretieren eines Rorschachtests vergleichen. Andere sind der Meinung, die diversen Simulakren, die uns der Besucher vor die Füße wirft, seien Versuche, mit uns in einen Dialog einzutreten. Sie gehen gewissermaßen davon aus, der Mimoide würde das Bett imitieren, um unsere sexuellen Handlungen zu verstehen. Ihre sympathisierenden Interaktionen wären dann vom gleichen Niveau wie der Schluß, wegen der formalen Ähnlichkeit unseres Gehirns mit einer Walnuß würde uns der Verzehr von Nüssen intelligenter machen. Offenbar reagiert der Mimoide nicht kausal. Er reproduziert, wie ein Papagei die gehörten Wörter nachplappert. Die Motivation des fremden Besuchers bleibt prinzipiell unergründlich, und bis auf weiteres scheint das Nicht-Verstehen wechselseitig zu sein. Als ob wir von einem riesigen Tier beschnüffelt würden. Sicher ist allein, dass es sich um eine Berührung handelt, um ein Abtasten und eine Form von Mimesis. Vielleicht versucht der Mimoide auch mit uns Kontakt aufzunehmen. Dabei handelt es sich jedoch, ungeachtet seiner technischen Fähigkeiten, um einen kindlichen Geist. Möglicherweise sind die Manifestationen trotz ihrer Komplexität nicht mehr als eine primitive Form der Imitation, vergleichbar dem melanesischen Cargo-Kult aus dem Stillen Ozean. Dieser Kult entstand am Ende des 19. Jahrhundert und erlebte seinen Höhepunkt im Zweiten Weltkrieg, hauptsächlich auf der Insel Tanna, wo regelmäßig Frachtflugzeuge auf dem amerikanischen Luftstützpunkt landeten. Die einheimischen Inselbewohner konnten nicht fassen, wie Menschen solche Gegenstände herstellen können, und schrieben deren Herkunft ihren verstorbenen Urahnen zu. Daraufhin begannen die Anhänger des Kults das Verhalten der Weißen zu imitieren. Mit einfachen Materialien wie Holz und Schilf bauten die Inselbewohner einen kompletten Flughafen nach, einschließlich der Kontrolltürme, Antennen, der Funkgeräte und Kopfhörer. So hofften sie, ihre Urahnen zum Abwurf der Ladung über ihrem Gebiet zu bewegen. Möglicherweise folgt auch der Mimoide einer solchen Logik, indem er die externe Oberfläche eines Systems nachbildet, ohne Kenntnisse der zugrundeliegenden Logik zu besitzen. Freilich ist auch das Umgekehrte nicht undenkbar, nämlich, dass im Laufe der Zeit bei Menschen ein ähnlicher Kult entstehen kann, dessen Anhänger ihrerseits die Manifestationen des Mimoiden imitieren in der Hoffnung, so den fremden Besucher in ihrem Geist empfangen zu können. Eine rückwärtsgewandte Anrufung Gottes, wie die sich selbst erfüllende Prophezeiung eines Paranoikers. Alles eine Frage, dem Leben einen Ort zu geben [Streichung des Autors] Abbildungen: 1. Close Encounters of the Third Kind 2. Edwin A. Abott, Flatland 3. Cargo-Kult